Mit dem Kinderperspektivenansatz werden nicht nur die fachlichen Perspektiven, sondern auch die Gedanken und Wünsche von Kindern in die Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten mit einbezogen. Ziel ist es, den Kindern Teilhabe an allen Prozessen zu ermöglichen. Ein Interview mit den Dozentinnen Jutta Daum und Dagmar Nieke.
Die Lebenswelt unserer Kinder ist stark geprägt durch die Orte, an denen sie sich aufhalten und durch die Menschen, denen sie täglich begegnen. 3,75 Millionen Kinder in Deutschland besuchen eine betreuende Tageseinrichtung (Stand März 2020)[1] und spielen, fühlen, sprechen, erleben, lernen und essen dort mit Gleichaltrigen und unter Aufsicht von Erzieher*innen.
Die Qualitätsentwicklung ist ein wichtiges Instrument, um die Situation in Kindertagesstätten sowohl für Fachkräfte als auch für Kinder so optimal wie möglich zu gestalten. Doch auch wenn Pädagog*innen und Kinder den Kita-Alltag gemeinsam bestreiten, so wurden bisher nur die fachlichen Perspektiven, nicht aber die Relevanzen und Wünsche der Kinder in den Prozess der Qualitätsentwicklung einbezogen. Das Projekt „Kinder als Akteur*innen der Qualitätsentwicklung in Kitas“ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann hat sich erstmals damit beschäftigt, die Gedanken, Bedürfnisse und Gefühle von Kindern in der Qualitätsentwicklung sichtbar und hörbar zu machen.
Basierend auf dieser Forschung bietet die Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung der Technischen Hochschule Köln nun erstmals die Weiterbildung „Fachkraft für Kinderperspektiven“ an. In dieser werden Teilnehmer*innen in einem umfangreichen Methodenrepertoire geschult, das es ermöglicht, die Kinderperspektive in die Qualitätsentwicklung der Kitas einzubeziehen.
Ein Gespräch mit den Dozentinnen Jutta Daum und Dagmar Nieke.
Kinder als Akteure der Qualitätsentwicklung in Kitas mit einzubeziehen ist ein recht neuer Ansatz. Warum ist es wichtig, Pädagog*innen in diesem Bereich zu schulen? Warum finden Sie den neuen Ansatz der Kinderperspektiven so spannend?
Jutta Daum: Ich finde es ganz wichtig, dass bei der Qualitätsentwicklung in Kitas nicht mehr nur der Erwachsenenblick zählt, sondern dass wir genauer hingucken und darüber nachdenken, was Kinder sich eigentlich wünschen. Dass wir die Kinder partizipieren lassen und sie einbeziehen. Es ist wirklich spannend: Auf diese Weise bekommen wir Zugang zu einer ganz neuen Welt. Nämlich der der Kinder. Es ist sinnvoll, auch ihnen eine Stimme zu geben, um den Kita-Alltag zu verbessern.
Dagmar Nieke: Die Perspektive der Kinder ist diejenige, die bei der Qualitätsentwicklung noch gefehlt hat. Oft ist es schwierig, zu verstehen: Was wollen die Kinder eigentlich. In meiner Tätigkeit als Familienberaterin in Zeiten von Corona ist mir das oft aufgefallen. Wir achten immer darauf, dass alle äußeren Faktoren stimmen. Passt das Hygienekonzept? Sind die Erzieher*innen gut ausgebildet? Aber welche Bedürfnisse kommuniziert eigentlich das Kind? Dem wird oft noch zu wenig Bedeutung beigemessen.
Könnten Sie exemplarisch eine der Methoden erläutern, die Fachkräfte anwenden können, um die Kinderperspektive in die Qualitätsentwicklung von Kitas einzubeziehen?
DN: Eine interessante Methode zur Erhebung der Kinderperspektive ist das sogenannte „Paar-Mal-Interview“. Bei diesem erhalten die Kinder einen Eingangsimpuls zu einem bestimmten Thema. Sobald die Kinder sich auf eine gemeinsame Idee geeinigt haben, dürfen sie in Partner*innen-Arbeit mit dem Malprozess beginnen. Während des Malens unterhalten sich die Kinder und das Gespräch sowie das gemalte Bild werden später nach der dokumentarischen Auswertungsmethode analysiert. Natürlich gibt es noch viele andere Methoden, die Teilnehmende unseres Lehrgangs kennenlernen werden.
JD: Eine weitere Methode ist der Kita-Rundgang. Die Kinder führen eine*n Pädagog*en*in durch die Kindertagesstätte und zeigen ihre Lieblingsplätze, aber eben auch das, was ihnen nicht gefällt. Einmal habe ich den Kindern auch eine Kamera in die Hand gedrückt und gesagt: „Führt mich doch mal anhand von Fotos durch die Kita.“ Hier geht es darum, den Blickwinkel des Kindes einzunehmen und eben nicht den der Erziehenden. Diese würden vielleicht ganz andere Ecken der Einrichtung lobend hervorheben, als es ein Kind tun würde.
Welche sind aus Kinderperspektive die Dimensionen, die zu einer besseren Kita-Qualität beitragen?
JD: Für Kinder sollten in einer Kita die Möglichkeiten gegeben sein, die Welt und das Leben mit allen Sinnen zu erkunden. Ihnen sollte der Raum gegeben werden, sich selbst zu entdecken und eine eigene Identität zu entwickeln. Außerdem ist es gut, wenn sich die Kleinen auch in Non-Konformität üben dürfen, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Das gehört in der Kindheit eben auch dazu: Grenzen zu kennen und diese auszutesten. Im besten Fall reagieren die Erzieher*innen mit Humor und Verständnis.
DN: Kinder wollen partizipieren und den Kita-Alltag aktiv mitgestalten. Deshalb sollte es ihnen in all ihren Belangen ermöglicht werden. Konkret sollten sie beispielsweise in der Essenssituation ihre Mahlzeit wählen und auch selbst aussuchen dürfen, wer neben ihnen sitzt. Die Kinder sollten ihre Wünsche äußern und Feedback geben dürfen sowie an der Erarbeitung von Regeln beteiligt werden. Das hilft ihnen dabei, diese zu beachten. Die Expertise der Kinder miteinzubeziehen und ihnen Teilhabe an allen Prozessen zu ermöglichen, ist Ziel des Kinderperspektivenansatzes.
M.A. Jutta Daum ist Erziehungswissenschaftlerin, hat langjährige Berufserfahrung in der heilpädagogischen Beratung und Begleitung von Familien (Frühförderung), in der Trägeraufsicht und Trägerberatung von Kindertagesstätten sowie Qualitätsentwicklung von Kitas zu Familienzentren. Sie war mehrere Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Frühkindliche Bildung und bietet seit 2014 als freiberufliche Dozentin Fortbildungen mit dem Schwerpunkt Fachkraft U3, Beobachtung, Inklusion und Diversität an. Sie verfügt u.a. über eine Weiterbildung in Familientherapie und ist Multiplikatorin für Qualität im Situationsansatz sowie für den Kinderperspektivenansatz. In unserer Weiterbildung unterrichtet sie die Module „Die Dokumentarische Methode als Grundlage für die Analyse von Kinderperspektiven“ und „Dokumentationsmethoden als Zugang für eine interperspektivische Qualitätsentwicklung“.
M.A. Dagmar Nieke hat Kindheitspädagogik und Medienpädagogik studiert. Als Lehrbeauftragte doziert sie seit 2016 an der Hochschule Rhein-Waal in verschiedenen Modulen, u. a. Grundlagen der Didaktik, Philosophie des Lernens und Pädagogische Beobachtung. Sie unterrichtet dort auch Kommunikation, Sprache und Literacy und gestaltet verschiedene Praxisprojekte. Die Medienpädagogin, Kindheitsforscherin und Dozentin ist seit 2021 in verschiedenen Fort- und Weiterbildungen selbstständig tätig und gestaltet u. a. Fachqualifizierungen und Vorträge zu kindheitspädagogischen Themen, wie dem Kinderperspektiven-Ansatz und pädagogischer Kommunikation. Als Erziehungsberaterin für Kinder, Jugendliche und Familien betreut sie Familienzentren im Kreis Kleve wobei der Mutter von vier erwachsenen Kindern besonders die Kinderrechte und eine partizipative Didaktik am Herzen liegen. In unserer Weiterbildung unterrichtet sie die Module „Einführung in die Grundlagen des Kinderperspektiven Ansatzes“ und „Der Methodenschatz und die praktische Anwendung der Erhebungsmethoden“.
Weiterführender Literatur